Neu in Berlin ist man zunächst einmal verschiedenen Eindrücken schutzlos ausgeliefert, wenn man Kiez für Kiez die Stadt entdeckt. Und neben Zeit, die man staunend und ungläubig verbringt, verliert man vor allen Dingen seine Geduld, gute Manieren und letzen Endes Geld.

Frisch in Berlin angekommen und auf diversen Erkundungs- und Akklimatisierungstrips in der Stadt unterwegs bin ich in die wohl beschissenste Gutmensch-Falle seit Aktion Sorgenkind getappt. Ob das jedem Rucksack-Berliner und Touristen so geht? Ich weiss es nicht. Dem hessischen Kleinstadtkind zumindest tun erstmal die Menschen leid, die im Berliner Winter draussen schlafen müssen, mit Kindern unterm Arm betteln oder Kippenstummel aus aus den öffentlichen Aschenbunkern dieser Stadt sammeln. Der beste Geburtsberliner von allen hat herzlich gelacht, als ich von meinen ersten Touren ins neue Heim zurückgekehrt bin und fassungslos vor soviel Elend meine leere Geldbörse gebeichtet habe.

Natürlich hab ich mal nen Euro, natürlich kauf ich dir nen Burger. Kippe? Sicher! Nimm alle! Das läpperte sich natürlich irgendwann zu erstaunlichen 50 Flocken am ersten Monatsende meines Berlinaufenthaltes. Man muss doch helfen und die Motz abkaufen oder dem Reggae-Mann, der sich den Blues aus der Lunge plärrt, in der Bahn was zustecken oder was in den Hut werfen. Man darf doch an Armut nicht blind vorbeigehen. Nicht am Alex, nicht unter den Linden und vor allen Dingen nicht in allen öffentlichen Verkehrsmitteln dieser göttlichen Stadt.

Doch, man kann und irgendwann muss man auch.

Schlüsselmomente Berliner Armut sind für mich Szenen, in denen die Bedürftigkeitsfassade der Punks, Penner, der Klischee-Roma, der Stinkenden oder einfach Verwahrlosten mal heftig brökelt. Da wird die erwirtschaftete Kohle beim Familienoberhaupt im Benz abgegeben oder sich nach erfolgreichem Abernten des Bahn-Waggons zum Kaffee bei Starbucks verabredet. Alles schon erlebt.

Man darf natürlich – zumindest nicht bewusst – ein Danke erwarten. Du fungierst in der Rolle des Gebers als laufender, atmender Bankautomat und abgehoben wird mit dem schlechten Gewissen, dass dir durch lockere Sprüche, unermütlichen Einsatz oder das Mitschleppen von irgendwelchen verflohten Wauzis impliziert wird. Dass du vielleicht grad selber total am Arsch bist (vielleicht wegen zwei Jobs, einer anstrengenden Beziehung oder zu wenig Schlaf) interessiert dabei keine Sau und das Nein zu Motz, Euro, Burger und Kippe wird nicht selten mit Spucke, rumänischen Flüchen oder Handgreiflichkeiten quittiert. Ich wiederhole: Alles schon erlebt.

Aber warum ich dann die asoziale Pottsau?

In der Gestalt des Kakao-Mann manifestiert sich meine erste Begegnung mit dem Berufsbetteln. Wir wohnten damals in Lichtenberg (dem schönen Teil von Lichtenberg!) und ich fuhr, wie bereits erwähnt zu Recherche-Zwecken, öfter zum Alex. Die U5 ist durch Ihre Schnittstellen mit diversen U- und S-Bahnlinien ein wahres Panoptikum und Augenfest und auch für sensible Touristen ein echtes Abenteuer. Den Kakao-Mann, der dabei alle Linien (und vermutlich auch Busse und Taxen frequentiert), hat bestimmt schon jeder, der sich zumindest kurzzeitig in Berlin aufgehalten hat, lauschen dürfen. Selbst wenn ich mich mit Menschen über Berlin unterhalte, die nicht hier leben, in zwei von drei Fällen haben den Kakao-Mann schon mal live bei der Arbeit beobachten dürfen. Lange, fettige Haare, verpickelt und vernarbt, Wohnparka, verlaust und ziemlich aufdringlich.

Die hagere – auf den ersten Blick geschlechtslose Gestalt zeichnet sich in erster Linie durch eine unsagbar nervige Fistelstimme, eine gewisse Kurzatmigkeit und und ein begrenztes Vokabular aus, dass stellenweise hauptsächlich aus der sich immerwährend wiederholenden Stringfolge aus Indikativ, Imperativ, Einatmen, Ausatmen und dem Wort “Bitte!” in seiner aggresivsten Form zu bestehen scheint. Der offensichtliche dem Chemie-Baukasten nicht abgeneigte Starkalkoholisierte und aus diversen Körperöffnungen transpierende duldet – wenn er seine Rede hält – keine Zwischengespräche und scheut auch nicht davor zurück, anderen Mitreisenden höflich (er sagt wenigstens “bitte”) aber bestimmt den Mund zu verbieten. Er appeliert dabei vor allen Dingen an unser Verständnis, an die Menschenwürde im Allgemeinen und untermalt das Ganze mit stimmungsmachenden Satzfetzen wie “Bitte, meine Damen und Herren, Ihre gute Laune. Einen Weg, eine Spende, Bitte” und so weiter und so fort. Ganz klar: Natürlich will er das Geld nicht für Alkohol. Nicht für Drogen. Er hätte gern ein Plätzchen zum Schlafen, Geld zum Wäschewaschen (sic!), eine Stulle und einen KAKAO! Sicher. Darum auch Kakao-Mann. In der ersten Zeit nachdem mich mein Verstand und mein leerer Geldbeutel vom Wohltäter-Syndrom geheilt haben, hatte ich tatsächlich so einen bekloppten Viertelliter-Tetrapak Kakao in der Tasche, nur für den Fall der Fälle und eine Runde gratis “Bescheuertes Gesicht”. Es gibt übrigens auf YouTube Videos von ihm in Action.

Vor ein paar Tagen treffe ich den Kakao-Mann also wieder. Ähnliche Masche, anderer Kiez und auch sonst irgendwie ist er nicht mehr der Selbe. Für seine Verhältnisse ordentlich als Punk verkleidet, die Fettmähne abrasiert, das Kapital – in Form eines Inzest-Hundes – trägt den Strassenfeger zwischen den kloakigen Lefzen und auch sonst.. irgendwas ist anders.

In meinem Schadel rast es kurzzeitig. Der Typ ist gepierct! Und zwar an diversen Stellen! Und nach dem Heilungsgrad sieht das mit hier nicht nach heisser Stricknadel, Kartoffel und Eiswürfel aus. Zwar ist es schon eine gefühlte (und gelebte) Ewigkeit her, dass ich mich ernsthaft mit Piercingkosten beschäftigt habe (im Hinterkopf überschlage ich den Preis grob), und eigentlich geht mich das nen feuchten Scheiss an, was der Kakao-Mann mit seiner Kohle macht, aber ich komme mir aus den oben erläuterten Gründen herzlich verarscht vor. Als dann so ne Gruppe Touris dem Übeltäter auch noch die nächste Runde Koks in Form von Almosen spendiert, wird der Typ auf mich aufmerksam. Angestrengt weggucken und auf dem Handy rumtippen ist jetzt passé, das Arschloch hat Spendebereitschaft gewittert und sich mental an meinem Geldbeutel festgebissen.

“Bitte. Sie. Vielleicht. Eine. Spende. Kakao!”

Von wegen. In knappen Worten gebe ich dem Kakao-Mann zu verstehen, dass ich seine auch sonst wie gearteten Süchte nicht mitfinanziere und er in diesem Waggon bereits fette Beute gemacht *dramatischer Blick auf die Touri-Gruppe* – GENAU DAS hätte ich tun sollen. Hab ich nicht, wie so oft fällt mir sowas erst im Nachhinein ein. Stattdessen sage ich “Nö!” und ärgere mich immernoch über meine Schwermetall-Anteile in seinem Gesicht.

Und deswegen bin ich eine asoziale Pottsau, wie er mir beim Verlassen des Waggons bedeutungsschwanger zuraunt.

Ob er das mit einer berufsmäßigen Fistelstimme sagt oder ganz normal sagt, weiss ich nicht. Beim nächsten Treffen werd ich mal drauf achten. Vielleicht gibts dann auch nen Kakao.

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2 Responses to Asoziale Pottsau

  1. anja says:

    Der Kakaomann ist mir bisher zwar nicht begegnet, dafür mach ich immer und oft Bekanntschaft mit aufdringlichen Menschen vom SOS Kinderdorf, den Maltesern oder dem BUND, die mich immer wieder zulabern möchten (zweimal haben sie mich zugelabert, ich wies allerdings aus Gründen ab). Spenden, spenden, spenden… Ja, guter Zweck und auch recht nett. Aber wenn ich denen sage, dass ich das Momentan ungern machen würde (da Arbeitslosigkeit und ähnliche Syndrome der finanziellen Knappheit) wird mir gesagt “Muss ja nicht 50€ im Monat sein, so 5€ die Woche tun’s ja auch. Stell dir mal vor, das ist ein Oberteil bei New Yorker die Woche.”
    Da kriege ich manchmal leichte Aggressionszustände und verkneife mir Kommentare wie “Im New Yorker kaufen auch meist nur 14-jährige Billigtussen ein, die’s nicht besser wissen…”

  2. Marga says:

    Das sind diese “Aktion Tier”-Menschen, die senil grinsend und mit wedelnden Armen auf dich zustürmen und kreischen “Haaaaallooooo, duuuhuuuu magst doch bestimmt Tiere!”, gell?

    Und den Kakaomann kennste bestimmt.

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