Eben fahre ich mit Irene in der Berliner Ringbahn. Sie ist Spanierin und mein niegelnagelneuer, changierend-weißer Desigual-Mantel. Ich hege amoröse Gefühle für sie.

Bevor ich mich setze, prüfe ich, ob auch niemand seine Notdurft auf dem anvisierten Sitz verrichtet hat – halte nach Spuckflecken und Bierpfützen Ausschau. Ich bin nicht zimperlich, aber meiner strahlendweißen, schmetterlingsblumbedruckten Irene darf erstmal nix passieren. Ich halte sogar Abstand zu dem Malergesellen und setze mich nicht – auch heute nicht – neben das Schokoladeneis essende Kind. Auch die auf Jungfrau geschminkte, elektrogetoastete Endvierzigerin mit den grellen Fingernägel meide ich aus Angst vor Abriebsflecken.

Ich gucke mir meine Irene verliebt in der Reflektion der Fensterscheibe an, als ein offensichtlich dem Berghain oder anderen Panoptiken entsprungener Mittzwanziger – brauner Cordanzug, Jutebeutel, Jägermeister-Pulle in der Linken, Club Mate in der Rechten, blonder Pagenschnitt – ins Abteil torkelt und zur Begrüssung einen Furz epischen Ausmaßes von sich gibt.

Er bleibt an der sich erbarmungslos schließenden Tür stehen, die Pfand-Rentner weichen ehrfürchtig vor so viel “Präsenz”, der mp3-bestöpselte Austausch-Hopper guckt betreten (ne, du heute ausnahmsweise nicht) und die Mädels von schräg gegenüber, die sich eben noch wiehernd SMS von irgendwelchen austauschbaren Sexualpartner gegenseitig vorlassen, zucken in Agonie.

Während das blasphemische Methan durch die Fensterschlitze (gott sei Dank!) strömt, nimmt Herr Berghain aus jeder Hand einen kräftigen Schluck, umspült Rachen und Kauleisten gründlich und lässt diese eitrige Mischung seine Kehle hinabgleiten. Vielleicht gurgelt er auch. Ich weiss es nicht. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, stille Stoßgebete gen Äther zu keuchen. “Nicht neben mich setzen. Nicht neben mich setzen.” – ein verzweifeltes Mantra, ich ziehe solche Randgestalten immer an, wie die Motten das Licht. Als hätte ich in dunkler Nacht ein fluoriszierendes Post-It auf der Stirn, auf dem einladend prangt “Sprich mich an! Jetzt!”.

Ich denke an Irene. Club Mate macht Flecken, von Jägerschmutz ganz zu schweigen. Und was aus der einen Öffnung schon nach verwesendem Spargel duftet, kann sich aus der anderen Öffnung nur als geruchstechnischer Gilb an mir festsetzen. Ich töte dich, wenn du dich neben mich setzt – versuche ich mit Körperspannung, Gesichtsausdruck und Mimik auszudrücken – Irene lässt mich in dieser Situation aussehene wie die hübsche, aber harmlose Cousine von Miss Piggy. Das changierende Weiß wirkt auf die Schmutzfinken der Hauptstadt – und davon gibt es viele – so einladend wie Elefantendung auf Schmeissfliegen.

Da macht es den Mund auf – ein Hoch auf den Sicherheitsabstand – und gröhlt im übelsten Checker-Ghetto-Slang auf die Mitreisenden ein. Ich hatte Vulgär-Schwedisch erwartet, aber diese Mischung aus volltrunkener Bronx und schlechtsitzendem Second-Hand-Anzug erstaunt mich. Während er sich eine Kippe ansteckt, tituliert er im Stakato-Singsang die Mädels als “Bitches”, den Malergesellen als “Homie” und gibt den Versammelten Einblick in seine Geisteswelt voller “Lines”, “Swags” und “Folks”.

Ab diesem Zeitpunkt schaue ich um auf der Suche nach dem Regisseur dieser Gesellschaftskritik. Sowas gibts in Berlin ja täglich: Impro-Theater, theaterwissenschaftliche Schock-Therapie, pürierte Hamster – aber dieser Typ erweist sich als tatsächlicher, gesellschaftlicher Drop-Out.

Die Situation spitzt sich zu, als ein Motz (siffige Klamotten, glasiger Blick, obligatorische Dreckstöle) die Bahn betritt und unter Einsatz seiner verbleibenden Leibeskräfte sein deprimierendes Zeitungsexemplar “das-ihm-seinen-Lebensunterhalt-sichert-aber-freuen-würden-Dingo-und-er-sich-auch-über-etwas-Geld-oder-etwas-zu-essen” unter die Leute bringen will. Stinkend, aber friedlich heimst der grüne Iro Spenden ein – der Hund (eine perverse Symbiose aus Spitz und Schäferhund, der wohl einmal zu oft am Bongwasser genascht hat) trottet ebenso friedlich hinter ihm her. Als er Herrn Berghain begegnet, echauffiert der sich – sichtlich angewidert – zuerst leise und dann immer lauter über dieses – ich zitiere: “widerliche Vollassi-Pack, das ihm hier die Luft zum Atmen raubt”.

Wow. Bevor ich mir ein Kommentar nicht mehr verkneifen kann oder ein quasi unfaires aber unvermeidliches Blutbad beginnt, verlassen Irene und ich das Abteil. Schönhauser Allee. Hier ist Ende Gelände.

Während überall auf der Welt der aufkeimende Frühling die Menschen friedlich und stumpf-lächelnd hinterlässt, verwandeln die warmen Passat-Winde die Hauptstadt in ein pulsierendes Pulverfass aufgekochter und über den Winter angestauter Emotionen. Für Irene und mich – und unsere weißchangierenden Frühlingsgefühle – ist das Pflaster da draußen momentan eindeutig zu gefährlich.

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